#407

Dein war mein ganzes Herz: Was ich Heinz Rudolf Kunze verdanke

Auf dem Cover meiner ersten selbst gekauften Heinz Rudolf Kunze-Platte prangt die Deutschland-Fahne. Genauer gesagt sind es nur die Deutschland-Farben. Schwarz, rot, gold. Aber nicht wie man es gewohnt ist. Nicht sauber, mit klaren Linien, die Farben strikt voneinander abgegrenzt. Es sieht eher so aus, als wäre es das Werk eines Kleinkindes. Die Linien nicht exakt, ungewollte Farbkleckse, der Auftrag der Farbe unterschiedlich intensiv.

Ich mag dieses Cover. Wenn ich Deutschland in einem Bild beschreiben muss, dann muss ich das nicht. Dann zeige ich diese Platte. Kräftig, farbenfroh, mit Strahlkraft; aber auch zerfranst, unklar, vielschichtig, ohne klare Kante. So ist für mich Deutschland.

Das Cover passte zum Inhalt. Heinz Rudolf Kunze schaute mit “Wunderkinder” auf Deutschland und die Welt, wie ich noch nie zuvor jemanden auf Deutschland und die Welt hatte schauen sehen. Es ist Mitte der 1980er Jahre, Helmut Kohl und die CDU sitzen fest im Sattel, und ich gehe noch immer jeden Sonntag in die Kirche. Aber ich merke, dass es nicht mehr lange so bleiben wird. Die Welt verändert sich, denke ich. Tatsächlich verändert sich vor allem mein Blick auf die Welt.

Diese Platte mit dem Deutschland-Farben auf dem Cover trägt entscheidend dazu bei.

Heinz Rudolf Kunze singt darauf, dass das deutsche Wirtschaftswunder ein Ergebnis verdrängter Kriegsschuld sei (“Wunderkinder”), welche Schrecklichkeiten Menschen Menschen zufügen können (“Kadaverstern”), er prangert die Macht des Lobbyismus’ an (“In der Lobby ist noch Licht”), und “In der Sprache, die sie verstehen” lässt sich unschwer als Aufruf zum Widerstand mit Gewalt verstehen.

Der nach außen bieder wirkende Herr Kunze als Revolutionär.

Das packt mich 15-Jährigen. Auch meine Welt ist irgendwie bieder. Auch ich will irgendwie ausbrechen. Mit den Songs von Heinz-Rudolf Kunze bekomme ich erstmals eine Idee davon. Dass mindestens die Gedanken frei sind.

Und irgendwie ist es seitdem so gelieben. Dieser Aufbruch, mindestens in Gedanken. Und dieses eine große Thema: den Mensch in der Gesellschaft verstehen wollen. Es begleitet und interessiert mich seitdem. Warum sind wir so wie wir sind? Warum bekriegen wir uns? Warum können wir warmherzig sein und uns unterstützen? Wie müssen Gesellschaften organisiert sein, damit nicht Leid und Mangel dominieren, sondern nachhaltiger Wohlstand entsteht? Vielleicht verkläre ich ein wenig, aber es fühlt sich so an, dass ich Heinz-Rudolf Kunze verdanke, dass er für solche Fragen mein Interesse geweckt hat, mich auf diesen Weg gebracht hat.

Ich war vor einiger Zeit mit meinem Sohn bei einem Heinz Rudolf Kunze-Konzert. Er ist ungefähr so alt wie ich war als ich HRK, wie viele ihn nennen, entdeckte. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Es ist keine gute Idee, seine Kinder auf Konzerte der Lieblingsbands der eigenen Jugend mitzunehmen. Das kann nur zu gegenseitigen Enttäuschungen führen. Sie haben wahrscheinlich Recht. Aber Enttäuschungen können lehrreich sein.

Es war jedenfalls im brandenburgischen Neuruppin. Kunze spielte mit Band gewohnt professionell seine Stücke. Das Publikum sang bei den alten Lieder mit und schwieg mehrheitlich bei den neuen. Zwischen den Liedern trug der Künstler, wie er das seit einigen Jahren macht, selbstgeschriebene Gedichte vor. Es war etwa nach einem Drittel des Konzerts. Mein Sohn hatte bis dahin regungslos neben mir gestanden, als Kunze anfängt, sich in einen kleinen Vortrag über vegetarisch und vegan lebende Menschen lustig zu machen. Das Publikum lacht, applaudiert zustimmend. Mein Sohn regt sich erstmals. Schaut sich im Saal um. Ein weiteres Gedicht nach einem weiteren Song. Diesmal ist die Gender-Sprache dran. Die Stadthalle bebt. Mein Sohn verlässt den Saal.

Ich folge. Wir laufen eine Stunde durch das dunkle, menschenleer frühlingshaft-warme Neuruppin. Erst schweigend, dann ins Gespräch kommend. Ich beschreibe, wie ich Kunze-Fan wurde (einmal stand ich bei einem Konzert mit selbst bemaltem T-Shirt mit der Aufschrift “Schau die große Karawane zieht vorbei im alten Trott, für Kamele gibt’s Gebete für die Reiter einen Gott” jeden Song textsicher mitsingend in der ersten Reihe), er erklärt mir, warum er meinen Helden mal so gar nicht als kritischen Meinungsmacher sehen kann.

Wir verstanden einander, ohne der gleichen Meinung zu sein. Es war ein guter Abend in Neuruppin.

Ich habe seitdem einen kritischeren Blick auf meinen einstigen politischen Superstar. Kinder haben mehr Macht über die Ansichten der Eltern als beiden Seiten oft bewusst ist. Als Sezierer der deutschen Gesellschaft sehe ich den Heinz Rudolf Kunze von heute seitdem nicht mehr. Als Revolutionär schon vorher nicht mehr. Vielleicht hat sich der 1956 im Flüchtlingslager Espelkamp geborene Kunze einfach zu lange ums Geld verdienen gekümmert, kümmern müssen. Fair enough. Erbärmlich wenigen Künstler:innen gelingt es, von Ihrer Kunst zu leben. Kunze hat das hinbekommen. Von den Tantiemen seines Hits “Dein ist mein ganzes Herz” lebt er wahrscheinlich heute noch recht gut. Und noch auf jeder neuen Platte findet sich mindestens ein Lied, das so klingt, als wolle es unbedingt in die Rotation von deutschen Radio-Stationen aufgenommen werden.

Der deutsche Mainstream bringt dem deutschsprachigen Kunze ein gutes Auskommen. Vielleicht hat dies der Selbstzensur die Türe geöffnet. Ist so der sezierende Gesellschaftsblick der Anfangsjahre abhanden gekommen. Wer zu sehr jene kritisiert, welche die eigenen Platten kaufen sollen, der verkauft auf Dauer weniger Platten. Und so regt sich Heinz Rudolf Kunze zwar immer noch auf. Aber nicht mehr gegen andere. Sondern mit anderen. So wie sich ältere deutsche weiße Männer heute eben mehrheitlich aufregen. “Gendern sei eine Art Tollwut”, sagt er jetzt in Talkshows kurz bevor der Applausometer im roten Bereich ausschlägt.

Was würde wohl geschehen, wenn man den Applaudierenden “Götter in weiß” von der Platte “Gute Unterhaltung” aus dem Jahre 1989 vorspielen würde? In dem Kunze das Leid durch die Kolonialisierung und die Befreiung davon in bestechend poetischen Worten besingt. Würde verstanden werden, dass auch die Veränderungsversuche in der Sprache eine Art Befreiungskampf sind? Und dass, wer dieses Anliegen mit markigen Sprüchen klein redet, nicht nur nicht mehr auf der Seite der Unterdrückten steht, sondern ihnen sogar abspricht, dass ihr Anliegen der Rede wert ist?

Oder anders gefragt: Welche Songs würde der Heinz Rudolf Kunze von damals heute schreiben?

Vielleicht würde der Heinz Rudolf Kunze von heute diese Texte messerscharf kritisieren. Vielleicht sogar verachten. Ich befürchte mindestens, er würde sie nicht respektieren. Und das ist das eigentlich Schlimme: Man muss mit 60 Jahren nicht mehr so denken wie mit 20 oder 30; was man aber erwarten kann, unabhängig vom Alter, ist dass man einander zuhört, dass man versucht, die andere Seite zu verstehen. Das verlangt der Respekt. Und daraus erwächst auch Respekt. Vor allem aber, nur so bleibt unsere Gesellschaft als Demokratie erhalten.

Und bisweilen kann man dabei auch viel lernen. Das ist zumindest eine Erkenntnis meines eigenen Älterwerdens. Dass die Welt nicht schwarz-weiß ist. Sie ist bisweilen erstaunlich dunkel, manchmal hell, oft bunt, meist jedenfalls nicht klar umrissen, wie man bisweilen dachte, immer in Veränderung, und bei genauerem Hinsehen, ziemlich vielfältig und abwechslugnsreich. So wie die Deutschland-Farben auf dem Cover meiner Lieblingsplatte.

Published by