
Heidenheim
Vielleicht denken wir das Leben unserer Eltern und Großeltern zu sehr vom Ende her. Vielleicht können wir dadurch wenig lernen. Wenn wir fragen, warum die Großmutter so harsch wurde, der Großvater nicht mehr leben wollte. Vielleicht sollten wir die Vergangenheit besser in Augenblicken denken. In glücklichen Augenblicken. Weil das Leben in erster Linie nicht Verkettung ist. Nicht Kausalität. Sondern vor allem im Hier und Jetzt stattfindet. Und es diese Augenblicke sind, die bleiben. Augenblicke, die – in kleine Geschichten verpackt – in die Gegenwart gelangen. Augenblicke, die offensichtlich wichtig waren. Sonst wären sie vergessen. Wenn das Mädchen im Wohnzimmer am schwarzen Klavier mal wieder der Nachbarin aus Schlesien ihr Lieblingslied aus der Heimt vorspielen muss und die Vertriebene dabei regelmäßig in Tränen ausbricht, und wenn dann der fünfjährige Bruder des Mädchens seine Mutter fragt, warum sich die Frau nur immer dieses eine Lied wünsche, wo ihr doch klar sein müsste, dass es sie traurig mache. Oder wenn es dem Vater gelingt, dem Vater, der vor allem eines kann: anpacken, der nach all den Kriegserfahrungen nicht mehr zur Ruhe kommen kann, der deshalb nach getaner Arbeit in der Textilfabrik noch beim Lebensmittel-Großhändler aushilft. Wenn es diesem Vater also gelingt, vielleicht durch ein kluges Gespräch mit dem Großhändler, seinem Sohn dort eine kaufmännische Lehre zu verschaffen. Weil der Großhändler vermutet, dass wenn der Vater zuverlässig ist, es der Sohn auch sein wird. Oder wenn dieser Vater, der seine Kinder regelmäßig zu Vereinstreffen mitnimmt, ihnen stets eine Bratwurst und eine Limo spendiert, trotz der knappen Kasse. Und die Kinder diese wiederkehrende Geste kleiner Großzügigkeiten nie vergessen werden. – Vielleicht sind es vor allem diese kleinen Geschichten, die wichtig sind. Weil sie klar machen, dass jeder Tag in diesem Sinne groß, nämlich erinnerbar, werden kann. Und weil sie uns bewusst machen, dass es besser ist, diese Augenblicke nicht erst dann als Glück zu begreifen, wenn die Wehmut Tränen bringt.
26. Februar 2018